Die Winterling Porzellan war einer der größten Porzellanhersteller in Deutschland. Für die Region Fichtelgebirge war die Porzellanindustrie wichtigster Arbeitgeber und auch Identifikationsmerkmal. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs hat sich die Branche stark gewandelt und diversifiziert: Neben der Porzellanherstellung („table top“ vor allem für die Systemgastronomie) gibt es heute eine große Bandbreite an Einsatz- und Anwendungsbereichen des Werkstoffes Keramik. Damit zählt die Region noch immer zu den führenden Keramik-Regionen in Europa.
Vier Standorte der ehemaligen Winterling Porzellan werden heute von einem gemeinsamen Kommunalunternehmen (gKU Winterling Immobilien) verwaltet, welches sich um die Nachnutzung der insgesamt 190.000 m2 Geschossfläche kümmert. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Wo einst große Industrieanlagen Porzellan in Serienproduktion herstellten, entsteht heute eine interessante Vielfalt an kleinen und mittelgroßen Unternehmungen: Von Logistik über Handwerk und Handel bis hin zu Freizeitangeboten fächern sich die Angebotspalletten auf.
Am Standort Röslau ist im Frühjahr 2019 die Kreativlounge und Kunstgalerie Et4ge eröffnet worden. Ein wichtiger Baustein in der Kunst- und Kulturszene der Region, der regionalen und überregionalen Künstlern und Kreativwirtschaftlern eine Plattform für Sichtbarkeit und Vernetzung bietet. In Röslau ist darüber hinaus noch das ehemalige Musterzimmerder Porzellanfabrik erhalten. Dort findet ein Teil des Kongressprogrammes statt. Ein Bogen spannt sich zwischen Industriearchitektur, Kunst, Lebenszyklen, Transformation, Gestaltungskraft und Zukunftswille.
Geschichte
Das Winterling-Areal in Röslau wurde fast ein Jahrhundert lang zur festen Größe im Geschichtsverlauf der Porzellanfabriken der Gebrüder Winterling. Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet, fungierte das Werk zunächst als Produktionsbetrieb, wurde später ebenso Sitz des Vertriebs und war bis zum Ende im Jahr 2000 mit 500 Mitarbeitern Produzent und Zulieferer für die Winterling-Porzellan-Dynastie.
1903 entschließt sich der Metzgermeister und Viehhändler Georg Adam Winterling zum Erwerb der 1898 gegründeten Porzellanfabrik Drechsel und Strobel in Marktleuthen. Zum Inhaber bestimmte er seinen in der selbstständigen Leitung einer Firma erfahrenen zweitältesten Sohn Heinrich, nachdem der Betrieb umbenannt wurde in Porzellanfabrik Heinrich Winterling.
Zusammen mit seinem jüngsten Bruder Ferdinand ruft Heinrich am 08. Oktober 1906 in Röslau eine Offene Handelsgesellschaft mit dem Namen „Gebrüder Winterling OHG“ ins Leben, um dort eine zweite Porzellanfabrik zu errichten. Nach und nach binden Heinrich und Ferdinand zunächst 1907 ihre Brüder Eduard, Karl und Gustav Winterling als zur Geschäftsführung berechtigte Gesellschafter und ihre beiden SchwesternAnnaund Berta verheiratete, als Gesellschafterinnen in die Handelsgesellschaft mit ein.
Heinrich lenkt als kaufmännischer Gesamtleiter sowohl die Geschicke der Marktleuthener als auch der Röslauer Porzellanfabrik. 1911 ist die Fabrik soweit gediehen, dass Eduard als Produktionsleiter nach Marktleuthen wechselt und in Röslau von seinem Bruder Karl in dieser Eigenschaft abgelöst wird. Durch regelmäßigen Informationsfluss der hauptverantwortlichen Leiter der Betriebe untereinander wurde man dem Anspruch Heinrichs auf engen Erfahrungsaustausch innerhalb der einzelnen Werke gerecht. Wichtige Entschlüsse wurden in den einzelnen Werken stets gemeinsam gefasst.
1917, während des ersten Weltkriegs, erwerben Heinrich und Eduard die Porzellanfabrik von Oskar Schaller in Schwarzenbach a.d. Saale und führen das Unternehmen als Offene Handelsgesellschaft unter der Bezeichnung „Oskar Schaller & Co. Nachf.“ Fort, der auch die drei Brüder Gustav, Karl und Ferdinand beitreten. 1919 vergrößert sich der Familienverband durch den Erwerb eines ausgedehnten Grundbesitzes entlang der Kirchenlamitzer Bahnstrecke sowie der Gebäude einer zum Verkauf stehenden Spulerei, welche durch umfangreiche Um- und Ausbaumaßnahmen zu einer Porzellanmalerei aufgebaut wurden. Somit trug das Kirchenlamitzer Werk, welches 1920 als Zweigwerk der „Oskar Schaller & Co. Nachf.“ seine Arbeit aufnimmt, zur Bewältigung der anstehenden Aufträge bei.
1925 gründen die Brüder Winterling in Berlin eine neue GmbH mit dem Namen „Bernhard Wiessner Nachfolger“, welche als Vertriebsgesellschaft der vier wirtschaftlich unabhängig geführten Werke Marktleuthen, Röslau, Schwarzenbach/Saale und Kirchenlamitz den Vertrieb der hauseigenen Produkte übernahm.
Im selben Jahr entschließt sich die Firmenleitung zum Bau des ersten Tunnelofens der bayerischen Porzellanindustrie. Die Anlage wird 1926 im Werk in Schwarzenbach in Betrieb genommen.
Nach dem Tod Heinrich Winterlings 1930 wurde – wohl aus organisatorischen Gründen – der Sitz der Berliner Vertriebsgesellschaft nach Röslau-Bahnhof verlegt und führte dort seine Geschäfte unter dem Namen „Verkaufszentrale der Winterling-Porzellanfabriken G.m.b.H.“ mit Karl Winterling – dem damaligen Leiter der Röslauer Porzellanfabrik - als geschäftsführendem Gesellschafter fort.
Zu Beginn der 1950er Jahre verfügen auch die Werke in Kirchenlamitz und Röslauüber moderne Tunnelofenanlagen, welche die veralteten Rundöfen ersetzen; die Verkaufszentrale in Röslau-Bahnhof besteht auch nach dem zweiten Weltkrieg weiter, jedoch werden nach der Währungsreform jeweils eigene Vertriebsgesellschaften für die anderen Werke der Familie Winterling gegründet.
Weitere Betriebsgründungen führten zur Aufnahme neuer Sparten in die Produktion. Am Standort der 1946 gegründeten „Porzellanfabrik Eschenbach“ in Windischeschenbach etablierte sich die Sparte „Hotelporzellan“ und in der 1952 entstandenen „ Porzellanfabrik Bruchmühlbach“ entstand ein weiteres Standbein mit der dortigen Umstellung von der Porzellan- auf die Steingutproduktion.
Während der 1980er Jahre sollten umfangreiche Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen bei gleichzeitiger Erhöhung der Qualität die Wettbewerbschancen gegenüber der Billigkonkurrenz aus dem Ausland erhöhen. So wurden durch die Einführung isostatischer Pressen, den Aufbau moderner Kapselfüll- und entleerungsanlagen sowie der Anschaffung neuer Dekorbrandöfen und den damit verbundenen Änderungen im Produktionsablauf Maßnahmen bezüglich der Erweiterung des Raumbedarfs notwendig. Somit wurden in Röslau, Schwarzenbach und Bruchmühlbach Hallenneubauten errichtet.
Durch die Erweiterung der Produktpalette um das Marktsegment „Bone-China“-Geschirr am Standort Eschenbach und den gesteigerten Zuwachsraten im Gastronomiebedarf und der damit verbundenen Nachfrage nach dem dort produzierten Hotelporzellan entschließt sich die Firmenleitung zu einer weiteren Umorganisation. Die Hotellinie wird nach Schwarzenbach verlegt und die Produktion des „Bone-China-Porzellans“ nach Röslau. Beide fungieren nun als Zulieferbetriebe für das Werk in Windischeschenbach.
1992 wurden die Familienunternehmen Gebrüder Winterling in Röslau, Winterling-Feinkeramik in Kirchenlamitz, Schwarzenbach und Bruchmühlbach sowie die Werke der Oskar Schaller & Co. Nachf. in Schwarzenbach, Kirchenlamitz und Windischeschenbach zu einer gemeinsamen Aktiengesellschaft zusammengefasst. Auch die lithografische Kunstanstalt „Oscar Schaller & Co. Nachf.“ in Rehau wird in dieses Unternehmen mit einbezogen. Nur das Werk Heinrich Winterling in Marktleuthen bleibt von dieser Umwandlung ausgeschlossen.
Die Winterling Porzellan-AG zählt zu diesem Zeitpunkt mit ca. 2500 Beschäftigten zu den vier größten Unternehmen der Branche.
Erst Ende der 1990er Jahre nach Übernahme der Wohnsparte der Hutschenreuther AG und dem Erwerb der zahlungsunfähigen Porzellanfabrik Triptis in Thüringen hatte sich die Firma mit der plötzlichen Vergrößerung übernommen. Ende 1999 musste das Insolvenzverfahren eingeleitet werden.
Quelle: gKU Winterling Immobilien, 2019, Masterplan Winterling-Areal Röslau